Melkor, die Figur des ersten und mächtigsten Valar, der von Eru, dem einen Schöpfergott in Tolkiens Universum erschaffen wurde, will wissen, ob er ein autopoietisches System ist. Damit hat mich auf sich aufmerksam gemacht.
Melkor schien mir in Nöten zu sein und wirklich, er fragte mich damit ja eine Frage, die die meisten Menschen sich niemals stellen. Wenn sie es doch tun, stehen sie nahe am Abgrund oder aber, was „Abgrund“ nicht unähnlich ist, sind Philosophen, Forscher oder Künstler.
Was bin ich? Fragte er mich. Nein, nicht: Wer? Das fragen sich viele. Er fragte mich nach dem Was. Was bin ich?
Wieso will Melkor das wissen?
Ich hatte ihn das nicht gefragt, so schnell wie ich in einen suchenden Antwortmodus gefallen war. Aber er lieferte mir die Antwort von selbst.
Dass er wissen will, wie er funktioniere, sagte er leise. Und wovon das abhänge, ob überhaupt er funktioniere oder nicht. Und was er beeinflussen kann und was nicht? „Denn beeinflussen will ich es. Muss ich es.“
Sagte er sehr bestimmt und das wollte ich nun genauer wissen. Er schwieg eine kurze Weile ehe er mir antworte und flüsterte dann, noch leiser, kaum hörbar für mich, dass er ein unsterbliches Geschöpf sei. Vielmehr, dass er dies bislang immer geglaubt hätte.
Geschöpf zwar nur wie alle anderen, Eru ausgenommen, auch, aber unsterblich. Nun aber sei ihm aufgegangen, dass er sich entscheiden müsse: Geschöpf oder unsterblich? Beides zusammen geht nicht. Es wäre unerträglich auf Dauer. Das wüssten auch die Elben und seine Geschwister, die Valar. Nur würden sie es anders lösen, indem sie sich nach dem Ende, nach dem Tod sehnten.
Autopoiesis – das Prinzip des Lebens
Gut, ich nehme die Frage von Melkor an und stelle sie, um sie zu verstehen, an mich selbst: Was bin ich?
Nun, ich bin ein Lebewesen. Da brauche ich nicht groß zu forschen, sondern einfach nur googeln und das kann ich, als Mensch, anders als die Helden des Elessarion ja tun.
Also frage ich mich weiter, was ein Lebewesen ausmacht und komme ziemlich bald auf Maturana. Maturana, ein chilenischer Biologe, gilt als Entdecker der Autopoiesis.
Das Wort „Autopoiesis“ hat er erfunden und meint damit das Prinzip, nach dem alles Leben funktioniert.
Autopoiesis heißt so viel wie „sich selbst produzieren“oder „sich selbst erschaffen“, auto – selbst, poiesis – hervorgebrachtes Werk, Poesie steckt darin, ein schöpferisch hervorgebrachtes Werk.
Und auf Leben bezogen, als dessen universelles Prinzip Autopoiesis nun gelten könnte, wir werden sehen, was wir damit anfangen können, auf Leben bezogen also bedeutet das Prinzip der Autopoiesis, dass Leben sich selbst hervorgebracht hat und ständig unermüdlich selbst hervorbringt.
Das gilt, wenn ich Maturana richtig verstehe, nicht nur für das Leben allgemein, sondern auch für Lebewesen. Angefangen mit Einzellern und jeder Zelle über Würmer, Mäuse und Elefanten, und auch für den Menschen.
Jedes Lebewesen ist ein autopoietisches System
Und für Lebewesen kommt mit Maturana und seinen Mitstreitern das Wort, Achtung, klingt nach Technik, deutet aber nur auf genaueres Beobachten hin, „Lebendiges System“ auf.
Womit man nun sagen kann: Jedes Lebewesen ist ein autopoietisches System. Das ist zwar noch ungenau, da die meisten Lebewesen aus vielen miteinander gekoppelten autopoietischen Systemen bestehen, aber das wäre jetzt an der Stelle zu viel auf einmal. Zumindest wenn ich mir Melkor vorstelle, der noch nie etwas von Maturana oder von Autopoiesis gehört hat.
Ok, also Schritt für Schritt: Lebewesen sind autopoietische Systeme und also ihr eigenes Werk, vielleicht ja im Sinne von Kunstwerk, denn berechenbar für sich selbst oder für andere ist ein autopoietisches System nicht.
Und mit diesem Werk, das sie nun sind, grenzen Lebewesen sich von ihrer Umwelt ab und schaffen sich bildlich gesprochen ein eigenes Reich, in dem sie selbst entscheiden, was sie tun.
Und ein autopoietisches System unterscheidet auch selbst, ob es für das, was in seiner Umwelt geschieht, empfänglich ist oder nicht. Keineswegs willkürlich, sondern immer darauf aus, das ist das Kriterium: Sich selbst – als autopoietisches System – am Leben, oder technischer gesprochen: am Laufen zu halten.
Wie eine Zelle sich von ihrer Umwelt mit einer Membran abgrenzt, ist das einfachste Beispiel für ein autopoietisches System. Aus ihrer Umwelt nimmt sie nur das und nur so viel an Materie und Energie auf, wie sie braucht. Im Innern erzeugt sie daraus die Elemente (Proteine, Lipide usw.), die braucht, um einen Zellkern auszubilden, zu wachsen, sich zu teilen usw.
Ein autopoietisches System „besteht“ aus Ereignissen
Jetzt kommt Niklas Luhmann ins Spiel. Und mit ihm erfahren wir, was autopoietische Systeme mit uns Menschen zu tun haben.
Luhmann war ein Systemtheoretiker, der das, was man Gesellschaft nennt, genauer als dies zu vor üblich war, analysierte. Soziologe also und als solcher, als er Maturana traf, anerkannt.
Luhmann, wie nicht nur er selbst, sondern auch andere überliefert und berichtet haben, diskutierte mit Maturana ausführlich, vermutlich wochenlang, über Autopoiesis und autopoietische Systeme.
Schließlich traf er die Entscheidung, nicht nur biologische Systeme, wie sie Maturana im Sinn hatte, sondern auch menschengemachte Systeme als autopoietische Systeme zu beschreiben.
„Menschengemachte Systeme“ ist sehr umgangssprachlich und insofern missverständlich. Luhmann beschreibt sie präziser, nämlich als Sinn-prozessierende Systeme, und unterscheidet diese in psychische und soziale Systeme.
Was er damit meint, dazu später. Ich nenne sie ab jetzt aber schon so, wenn von ihnen die Rede ist. Sonst müsste ich mich zu umständlich ausdrücken.
Die Entscheidung, die Luhmann damals, in den frühen 1980er Jahren, traf, war mutig, finde ich. Maturana nämlich hatte durchaus Bedenken, die Luhmann auch nicht ausräumen konnte.
Denn von Biologie auf Gesellschaft zu schließen, ist traditionell so beliebt wie gewagt. Fehlschlüsse wie: Die Gesellschaft als einen Organismus, der ein- und ausatmet, zu deuten, sind unter Wissenschaftlern aus leidvoller Erfahrung verpönt.
Deshalb musste vor diesem Abenteuer, das Luhmann unternahm, unmissverständlich geklärt sein und das tat er auch, woraus autopoietische Systeme „bestehen“. Nämlich nicht etwa aus Dingen oder Komponenten, sondern aus Ereignissen.
Wieso Ereignisse? Der Beobachter setzt eine andere Brille auf!
Ich könnte es mir leicht machen und sagen: Sieht man doch bei psychischen und sozialen Systemen:
Gedanken, Ideen, Worte und Sätze, also das, woraus psychische bzw. soziale Systeme „bestehen“, sind keine Dinge, die man anfassen könnte, sondern Ereignisse.
Bei sozialen Systemen kann das jeder hören, wann immer er will. Ein Wort wird gesprochen und verklingt. Oder ein Satz erklingt und schon folgt der nächste. Und der Satz, welcher zuvor gesprochen wurde, ist nicht mehr da.
Fast identisch ist es bei psychischen Systemen. Gedanken, Ideen, Vorstellungen oder woraus immer psychische Systeme „bestehen“ mögen, sind in der Regel flüchtig. Sie kommen und ziehen vorbei, viele unbemerkt, manche schemenhaft. Und auch wenn man einen Gedanken festhalten will, muss man das mit einem nächsten Gedanken tun.
Passt auch, aber Luhmann stellt klar, dass alle autopoietischen Systeme, also auch biologische Systeme, aus Ereignissen „bestehen“.
Das ist auch nicht schwer nachzuvollziehen. Ich brauche nur eine andere Brille aufzusetzen, eine Brille nämlich, die darauf achtet, was zwischen den Elementen passiert.
Und wenn ich diese Brille aufsetze, fällt mir auf:
Die Elemente oder auch Bausteinchen werden im Laufe des Geschehens aufgespalten, neu kombiniert usw. jedenfalls ständig verändert. Die Elemente, Proteine, Lipide usw. sind flüchtig, sie bleiben nicht. Und doch existiert eine Zelle weiter, bleibt also als Zelle bestehen.
Für eine Zeit. Aber um das zu sehen, bräuchten wir wieder eine andere Brille. Noch haben wir die Brille auf: Was passiert? Was wird getan? Und wie können wir das beschreiben?
Wenn wir dafür Sprache zur Hilfe nehmen, können wir das, was geschieht, mit Verben ausdrücken. Eine Zelle, zum Beispiel zerlegt, kombiniert unablässig ihre winzigen Bausteine. Und muss all das, was sie tut, aufeinander abstimmen, so koordinieren, dass sie damit weitermachen kann.
Was für ein Verb das Zusammenspiel all diese Tätigkeiten einer Zelle treffend, sinnfällig beschreibt, ist mir noch nicht recht klar. Bei Maturana und Luhmann habe ich dafür „leben“ gefunden. „Die Zelle lebt.“ Nun gut. Vielleicht pulsiert? Ich stelle das erstmal zurück.
Fazit: Ja, ich bin ein autopoietisches System, vermutlich ein psychisches. Und das heißt, ich bestehe aus Ereignissen. Was dann wohl auch für Melkor gilt.
Nachsatz: Ob ihm, Melkor, das gefallen wird? Vermutlich wird er gleich als Erstes einwenden: Ich bestehe nicht aus Ereignissen, sondern ich bin ein Ereignis.
Wo er recht hat, hat er recht. Die Frage ist dann nur, was für ein Ereignis. Oder auch, was für eine Art von Ereignissen? Eines dieser vielen unzähligen, die in jedem autopoietischen System unberechenbar und dennoch sinnvoll ablaufen, wird er ja nicht meinen. Aber was dann? Immerhin dürfte auch Melkor schon mal jetzt klar sein:
Autopoietische Systeme sind keine Geschöpfe!
Ich bin gespannt, was Melkor für ein Ereignis zu sein glaubt. Oder anders: Mit was für einem Ereignis kann, oder will er sich identifizieren.
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Literaturquellen:
Maturana Baum der Erkenntnis
Luhmann: Soziale Systeme
Luhmann: Soziologische Aufklärung 6
Anmerkungen:
Als aus Ereignissen bestehend, hatte schon Whitehead – die Welt als Ganzes beschrieben: Die Welt im kleinen wie großen besteht nicht etwa aus Dingen und Substanzen, dies überhaupt zeigen zu können, war sein großer Kampf, sondern aus Ereignissen und Prozessen.
Das ist knapp 100 Jahre her. Heute könnte man sagen, weiß man das. Zumindest spricht heute alle Welt von Prozessen.